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Gustav-Adolf-Straße

Vor fast dreißig Jahren fiel die Berliner Mauer.

In Weißensee und anderen Stadtteilen Ost-Berlins ließen die Risse, die sich im kommunistischen Block auftaten, eine helle Zukunft erwarten, die aus Versöhnung mit den Landsleuten im Westen, steigender Kaufkraft und freier Meinungsäußerung bestand. Die Realität sah jedoch anders aus, und die Bewohner des Viertels, von denen die meisten schon zu DDR-Zeiten hier lebten, drückten es sehr deutlich aus: Die Wiedervereinigung war der Beginn eines langen Niedergangs. In diesem stark industrialisierten Stadtteil, in dem Vollbeschäftigung die Regel war, führten die plötzliche Schließung von Fabriken, die Nichtanerkennung von DDR-Abschlüssen und die steigenden Mieten für Gewerbeimmobilien zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Als die Fabriken und Geschäfte verloren gingen, hatten die Bewohner das bittere Gefühl, dass ihnen die Werkzeuge, die das Leben auf der Straße ausmachten, weggenommen wurden. Und wenn sie uns von „Versöhnung“ erzählen, klingt dieses Wort aus dem Mund der Besiegten wie ein Konzept der Sieger.

Dieses fragile und erstaunlich gut erhaltene Ökosystem steht vor einem tiefgreifenden Umbruch. Diese Veränderung kündigen uns die Bagger, die Maler und die Entfeuchtungsfirmen an, und hinter ihnen ist die wahre treibende Kraft die Immobilienspekulation mit Wohnraum. Nach den Worten eines langjährigen Bewohners ist diese Kraft so groß, dass sie das Viertel sowohl in seiner Besiedlung als auch in seiner Bebauung verändert, und zwar effektiver als es der Zusammenbruch des DDR-Regimes getan hat.
Die Gustav-Adolf-Straße ist heute Schauplatz der Konfrontation zwischen einer lokalen und einer globalen Logik, zwischen der gescheiterten Wende der wirtschaftlichen Konversion nach dem Fall der Mauer und dem Immobilienmarkt, der nun auf internationaler Ebene betrachtet wird. Zwischen der Nostalgie der kommunistischen Zeit und einem rohen Ausdruck des Kapitalismus. Es ist auch der Moment, in dem sich in der Talsohle sowohl Bedauern als auch die Aussicht auf blühende Tage treffen. Heute überlagern sich zwei Bilder in einer Überblendung, deren Dauer und Ausgang ungewiss sind: das Bild einer ehemals blühenden Straße, die durch den wirtschaftlichen Wandel in einen unaufhaltsamen Niedergang getrieben wurde, und das Bild einer Straße, die gute Argumente für Bauherren und in deren Gefolge für eine neue Bevölkerung bietet.
Dieser Film widmet sich dem, was bald war. Genauer gesagt ist er den Figuren in dieser Welt im Gleichgewicht gewidmet. Die Kräfte, die bei diesem Umschwung am Werk sind, sind beträchtlich. Nicht zu vergleichen mit denen der Bewohner und Geschäftsleute der Gustav-Adolf-Straße. Aber das macht nichts: Diesen großen Umschwung wünschen sie sich, sie fürchten ihn, sie verzweifeln an seinem Eintreten, aber sie warten nicht passiv auf ihn. Sie kommen zusammen, planen und handeln, beschweren sich, fordern und nehmen uns als Zeugen. Wir legen Zeugnis ab.

Dokumentarfilm 2023.

geschrieben, inszeniert und produziert von : JORIS RÜHL und TAWAN ARUN.

Schnitt: ERIK LEMKE, JORIS RÜHL und TAWAN ARUN.

Kamera Verstärkung: ANDRÉ KRUMMEL

Ton Verstärkung: BERT OLKE GL AUDIO

Filmteam: ANIKA DRESSLER, SABRINA HUBERT

Produktionshilfe: MAUD REYNAUD

Kalibrierung: JÉRÉMIE PUJAU

Mix: ANANDA CHERER

Untertitel: TILL ZIMMERMANN

Übersetzung: BERND ZIMMERMANN

Transkription: CHRISTIANE HANEMANN

Voice-over-Darsteller: LUCAS PARTENSKY

Illustrationen: ANAÏS EDELY – STUDIO LEG

Finanzierung: CNC, SCAM